29 Aug
2022

Österreich, ein
gallisches Dorf?

Selbstversuch Staatsbürgerschaft

Anja Krohmer, Bild: Werner Puntigam

Anja Krohmer erhielt mit ihrer Geburt die Staatsbürgerschaft der DDR und lebt seit mehr als 16 Jahren in Oberösterreich. Sie ist Geschäftsführerin des Vereins Begegnung Arcobaleno in Linz. Von der Teilnahme an Wahlen auf Landes- und Bundesebene ist sie ausgeschlossen, weil sie nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt.

Wir reisen heute rund um den Globus und sind polyglott unterwegs. Noch nie zuvor flüchten so viele Menschen, weltweit auf der Suche nach einer sicheren Zukunft für ihre Familien. Arbeitswelten sind dynamisch, Remote-Jobs von den schönsten Inseln rund um den Erdball sind das Ziel vieler junger Menschen in den westlichen Kulturen. Heute hier – morgen dort.
Das „hohe Gut“ der österreichischen Staatsbürgerschaft erscheint dagegen wie das verstaubte Skelett eines Dinosauriers aus dem Naturhistorischen Museum. Die österreichische Staatsbürgerschaft muss man sich im wahrsten Sinne des Wortes verdienen und sie wird der Bewerberin erst am Ende des Integrationsprozesses mehr oder weniger feierlich verliehen – allerdings nur dann, wenn die notwendigen Voraussetzungen zur Gänze erfüllt sind. Dies gilt es in einem langwierigen bürokratischen Prozess mit Originaldokumenten, Übersetzungen, Beglaubigungen, Apostillen etc. glaubhaft zu machen: durch eine bestimmte Einkommenshöhe, die selbst viele österreichische Arbeitnehmer*innen nicht erreichen, ausreichende Deutschkenntnisse, die so einige Menschen aufgrund ihrer Einschränkungen nicht haben können – egal ob autochton oder zugewandert, sowie Integrationswillen, Unbescholtenheit, durchgehender 10-jähriger Aufenthalt in Österreich etc. etc..

Selbstversuch Staatsbürgerschaft

In einem Selbstversuch vereinbarte ich im März 2021 einen Termin im Landesdienstleistungszentrum in Linz, um den Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft abzuholen. Nein, eine postalische Zusendung oder ein Download aus dem Internet waren nicht möglich. Der nächste freie Termin zur sogenannten „Erstberatung“ war im Juli 2021 verfügbar und gestaltete sich als Aushändigung des Antrags samt Information über alle notwendigen Dokumente im Original und in Kopie. Gott sei Dank musste ich als deutsche Staatsbürgerin keine Zertifikate über meine Deutschkenntnisse vorlegen. Mein Abiturzeugnis war dafür ausreichend. Ebenso konnte ich mir mühsame Termine und Kosten bei Konsulaten und entsprechend anerkannten Dolmetscher*innen zur Übersetzung meiner Dokumente in Salzburg, Wien oder gar in meinem Geburtsland ersparen. Nicht auszudenken wie ich Unterlagen aus der DDR hätte einreichen sollen.

Nach sechs Wochen

hatte ich alle Dokumente beisammen, darunter eine kostenpflichtige Bestätigung des Kreditschutzverbandes, einen Versicherungsdatenauszug, einen aktuellen europäischen Strafregisterauszug, sämtliche Einkommensnachweise der letzten 36 Monate, Heiratsurkunde, Mietverträge, Meldezettel, Lebenslauf, Passbild, Geburts-
urkunde aus der DDR etc.

Ein Anruf im August bei der zuständigen Behörde der oberösterreichischen Landesregierung bescherte mir einen Abgabetermin kurz nach Weihnachten, im Jänner 2022. Mit einer österreichischen Freundin als Rechtsbeistand (sicher ist sicher!) legte ich alle geforderten Unterlagen vor. Beinahe wäre mein Antrag nicht angenommen worden, weil ich ihn schon daheim und an einer falschen Stelle unterschrieben hatte. Der Antrag und meine gesamten Unterlagen würden jetzt ausführlich geprüft und ich würde dann Nachricht über weitere Schritte bekommen. Das könnte ein paar Monate dauern, so die Auskunft der Mitarbeiterin im LDZ.
Nun lag der Antrag mit Informationen über mein gesamtes bisheriges Leben also bei einer Behörde und eine mir unbekannte Person würde alle meine Dokumente einer peniblen Durchsicht unterziehen.

So ähnlich muss das Gefühl sein, wenn heimlich jemand in deinem Kleiderschrank herumwühlt, bis hin zur Schublade mit deiner Unterwäsche.

Ich wollte diesen Kontrollverlust nicht

In den folgenden zwei Wochen kreisten meine Gedanken viel zu oft um diesen Antrag. Nur um endlich bei Wahlen auf Landes- und Bundesebene in Österreich, meiner aktuellen Heimat, mitwählen zu dürfen, wollte bzw. sollte ich meine Identität aufgeben? Diesen Verlust hatte ich beim Zusammenbruch der DDR schon ein Mal erlebt: plötzlich gehörte ich zu den Ossis. Warum? Nach meinem Umzug nach Österreich lebte ich mehrere Jahre lang glücklich mit meiner Identität als Europäerin. Das Reisen innerhalb Europas war frei, die europäische Gemeinschaft nicht nur eine Wirtschaftsunion. Mit dem Aufstieg der FPÖ in Österreich mehrten sich dann plötzlich die ausländerfeindlichen Wahlplakate. Ich und viele andere spürten durch eingängige Slogans, dass wir die anderen sind. Und seitdem begegne ich bei jeder Wahl diesen ausländerfeindlichen Parolen mehrerer Parteien.
Aber Österreich ist bei weitem kein gallisches Dorf, das sich verbissen gegen eine Übermacht wehren muss. Oder doch? Wehrt sich Österreich gegen Weiterentwicklung, gegen sprachliche und kulturelle Synergien, gegen ein Miteinander in der Weltgemeinschaft? Haben die alteingesessenen Regierungsparteien Angst um ihre Wahlerfolge, wenn plötzlich die Anderen auch mitwählen dürfen? Die Anderen, die den Laden der Republik Österreich gemeinsam mit den Vielen am Laufen halten. Wie würden Entscheidungen der Parlamente in Österreich ausfallen, wenn alle in diesem Land wählen dürften?

Fürchtet sich Österreich am Ende gar vor echter Demokratie?

Ich fürchte mich vor einer Heimat, in der nur diejenigen mitbestimmen dürfen, die den „richtigen“ Pass haben. Ich fürchte mich vor einer Regierung, deren Entscheidungen zunehmend an demokratischer Legitimation verlieren. Die Auswirkungen dessen sehen wir bereits an der immer größer werdenden Schere zwischen arm und reich und in den Krisengebieten dieser Welt.

Diese Artikel ist im Rundbrief 5/22 (September/Oktober) erschienen.

Zurück