2022
European Platform on
Combatting Homelessness
Chance auf Beendigung von Obdach- und Wohnungslosigkeit?
Ist EPOCH (=European Platform on Combatting Homelessness) ein Brüsseler Papiertiger oder Chance auf Beendigung von Obdach- und Wohnungslosigkeit? Alexander Machatschke, BAWO
Obdach- und Wohnungslosigkeit sind komplexe Phänomene, die viele Ursachen haben und auf vielen Ebenen angesiedelt sind. Neben den betroffenen Menschen müssen sich Gemeinden, Länder, Bund und die Europäische Union damit beschäftigen, genauso wie bei der Lösung dieses Problems strukturelle und individuelle Faktoren bedacht werden müssen.
Das bedingt eine Vielzahl von unterschiedlichen Stakeholdern. So gilt es Sozialpolitik, Wohnpolitik, Gesundheitspolitik, Wohnungswirtschaft, Wohnungslosenhilfe und Gesundheitseinrichtungen, auf allen unterschiedlichen Ebenen zu verbinden um eine bestmögliche Lösung zu finden.
In weiterer Folge wollen wir vor allem die europäische Ebene betrachten, die in letzter Zeit mehr Interesse zeigt, sich des Problems anzunehmen. Dazu sollten wir wissen, wovon wir quantitativ und qualitativ sprechen.
Wie groß ist das Problem?
Zahlen sind besonders wichtig für alle politischen Entscheidungsträger*innen. Denn Zahlen, also die Anzahl der Betroffenen, bestimmen meist die Höhe der Kosten. Und die Kosten sind auf allen Ebenen der Armutsbekämpfung – und Obdach- und Wohnungslosigkeit sind wohl die schärfste Form von Armut – eine wichtige Frage. Umso erstaunlicher, dass es gar nicht so einfach ist, valide Daten zu erheben. Versuchen wir es zuerst mit Zahlen aus Österreich.
Die Statistik Austria erhebt Zahlen zu Menschen in Österreich, die entweder in einem „Anstaltshaushalt“ leben, oder eine „Hauptwohnsitzbestätigung“ haben.
Die letzten Zahlen dazu finden sich in der Veröffentlichung „Kennzahlen zu Lebensbedingungen 2020“. Ab Seite 29 finden sich die relevanten Zahlen:
- Im Jahr 2020 waren 19.912 Menschen in Österreich als obdach- oder wohnungslos registriert.
- 9.721 Menschen hatten eine Hauptwohnsitzbestätigung
- 11.441 Menschen lebten in einem Anstaltshaushalt
- 58,2% der Menschen waren in Wien aufhältig, 7,35 in Oberösterreich
- 69% waren Männer
- 57,4% hatten die österreichische Staatsbürgerschaft
Im Jahr 2018 hat die Statistik Austria das Konzept zur Messung, in Zusammenarbeit mit der BAWO, grundlegend überarbeitet und verbessert und die Europäische Typologie für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnversorgung (ETHOS) zum Ausgangspunkt genommen. Das hat zwar die Datenlage massiv verbessert, aber nichtsdestotrotz gibt es nach wie vor statistisch untererfasste Formen von Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit, wie die BAWO in einem Zusatzbericht am Beispiel der Bundesländer Vorarlberg, Salzburg und Wien gezeigt hat.
In ihrem Policy Paper „Obdachlosigkeit beenden. Eine bundesweite Strategie“ geht die BAWO daher von einer wesentlich größeren Betroffenheit aus (wie auch internationale Erhebungen aus Finnland und England zeigen) und beziffert die Anzahl der betroffenen Menschen mit ca. 25.000, was zur Drucklegung des Papers etwa der doppelten Anzahl der offiziell gezählten Personen entsprach (nach letzten Daten wären das ca. 23.000 Menschen).
Auf europäischer Ebene ist es naturgemäß noch schwieriger, valide Daten zu erhalten. Unterschiedliche zugrundeliegende Definitionen und Zählweisen lassen Vergleiche und Zusammenführungen von Daten kaum zu. Die FEANTSA, der europäische Dachverband von Einrichtungen für Wohnungslose, geht von mindestens 700.000 obdachlosen Menschen aus. Und 4 von 100 Menschen (aus einem Sample von 12 Ländern) waren mindestens einmal in ihrem Leben obdach- oder wohnungslos. Gründe für Obdach- und Wohnungslosigkeit sieht der Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte Nicolas Schmit (Video ab 15:15:28) vor allem in steigenden Wohnungspreisen, prekären Beschäftigungsformen, niedrigen Einkommen und nicht zuletzt den Folgen von Covid-19.
Man kann also nicht genau sagen, wie viele Menschen obdach- oder wohnungslos sind, aber die Zahlen, die bekannt sind, lassen auf eine hohe Betroffenheit schließen.
Kein Wunder also, dass sich Europäisches Parlament und Europäische Kommission des Themas annehmen, auch wenn die Verantwortung natürlich weiter bei den Mitgliedsstaaten liegt. Die momentan wohl wichtigste Initiative ist die „European Platform on Combatting Homelessness“ (EPOCH).
Was soll/kann/will EPOCH bewirken?
Grundlage von EPOCH ist der Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte. Unter Punkt 19 „Wohnraum und Hilfe für Wohnungslose“ heißt es:
- „a. Hilfsbedürftigen wird Zugang zu hochwertigen Sozialwohnungen oder hochwertiger Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung gewährt.
- b. Sozial schwache Personen haben das Recht auf angemessene Hilfe und Schutz gegen Zwangsräumungen.
- c. Wohnungslosen werden angemessene Unterkünfte und Dienste bereitgestellt, um ihre soziale Inklusion zu fördern.“
Abgesehen von der problematischen Formulierung „sozial schwach“ (besser wäre wohl materiell oder finanziell benachteiligt) hat sich die Europäische Union damit zumindest das Ziel gesetzt, betroffene Menschen zu unterstützen.
Der Start der Plattform erfolgte im Juni 2021 mit der „Erklärung von Lissabon“.
Teil der Plattform sind Vertreter*innen der EU-Institutionen, nationale Minister*innen, Sozialpartner*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Städtevertreter*innen.
Ziele der Plattform
sind Prävention, Entwicklung und Umsetzung integrierter Ansätze zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit; diese sollen u.a.:
- Nicht nur ein „Verwalten“ beinhalten (z.B. in Form von Notschlafstellen), sondern langfristige Lösungen zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit unterstützen (z.B. Housing First)
- Die Zusammenarbeit von Stakeholder*innen in der EU stärken
- Durch Best Practices gegenseitiges Lernen unterstützen
- Datenerhebungen entwickeln, um Obdachlosigkeit besser zu verstehen und effektive Lösungen zu finden. Dazu auch Erhebungen bei ehemals Betroffenen, um mehr über die Gründe von Obdachlosigkeit zu verstehen.
- Förderung und finanzielle Unterstützung durch nationale Haushalte und EU-Budgets sicherstellen.
Der Lenkungsausschuss wird von Yves Leterme (ehemaliger belgischer Premierminister) geleitet. Das genaue Arbeitsprogramm ist noch in Ausarbeitung. Das Europäische Parlament wird weiter zentraler Akteur bleiben und wird essentiell für den Erfolg der Plattform sein.
Das Arbeitsprogramm stellt fest:
„Die Mitglieder der Plattform verpflichten sich, gemeinsam auf die Beendigung der Obdachlosigkeit bis 2030 hinzuarbeiten, indem sie Strategien fördern, die auf einem personenzentrierten, wohnungsorientierten und integrierten Ansatz basieren, damit:
- Niemand auf der Straße schlafen muss, weil es an zugänglichen, sicheren und angemessenen Notunterkünften mangelt;
- niemand länger in einer Not- oder Übergangsunterkunft lebt, als für einen erfolgreichen Übertritt in eine dauerhafte Wohnlösung erforderlich ist;
- niemand aus einer Einrichtung (z. B. Gefängnis, Krankenhaus, Pflegeeinrichtung) entlassen wird, ohne dass ihm eine angemessene Unterkunft und Unterstützung angeboten wird;
- Zwangsräumungen wann immer möglich verhindert werden und niemand ohne Unterstützung für eine angemessene Wohnungslösung delogiert wird, wenn diese erforderlich ist;
- Niemand aufgrund seines/ihres Status als obdachlose Person diskriminiert wird.
- Dieser Ansatz sollte bei allen Aktivitäten, die im Rahmen der Plattform entwickelt werden, im Mittelpunkt stehen.“
Wird das reichen?
Es ist schwierig einzuschätzen, ob EPOCH tatsächlich erfolgreich sein kann, wenn es um die Beendigung von Obdach- und Wohnungslosigkeit geht. Zu viel ist noch in Verhandlung, zu wenig ist verbindlich vereinbart, um das korrekt einschätzen zu können. Natürlich kann man die Ansätze als wenig ambitioniert betrachten, wenn man sich vor Augen führt, dass es ein Menschenrecht auf Wohnen gibt und dass die revidierte europäische Sozialcharta sogar ein Recht auf Wohnung kennt, das Österreich aber leider nicht ratifiziert hat.
Was aber grundsätzlich positiv ist:
Dem Problem wird endlich auf europäischer Ebene mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Die EU-Kommission und das Europäische Parlament haben ein gemeinsames Ziel, was die Verwirklichung zumindest unterstützt.
Mit FEANTSA ist eine NGO involviert, die hohe Expertise, langjährige Erfahrung, und ein starkes europäisches Netzwerk hat.
Die Plattform plant Betroffene aktiv einzubinden.
Die Mitgliedsstaaten geraten, durch die Vergleichbarkeit auf europäischer Ebene, unter Zugzwang, das Problem (besser) zu bearbeiten.
Insgesamt ist also wohl vorsichtiger Optimismus angebracht, insbesondere da auch Österreich die Erklärung von Lissabon unterzeichnet hat und das Sozialministerium aktiv an der Plattform teilnimmt. Die BAWO, als österreichweites Netzwerk, ist auf jeden Fall bereit, ihren Teil beizutragen, damit wir Obdach- und Wohnungslosigkeit in ganz Europa bis 2030 beenden können.
Dieser Artikel ist im Rahmen des 2. Teils des Europa-Schwerpunkts im Rundbrief 4/2022 (Juli/August) erschienen. Der Rundbrief kann abonniert werden.