2022
Die Soziale Dimension der EU
Judith Vorbach über Chancen und Hindernisse

Der Weg zum Ausbau der sozialen Dimension der EU ist steinig. Dabei wäre es wichtig, die tiefe wirtschaftliche Integration durch eine starke soziale Komponente zu ergänzen. Dies würde einen weiteren Ausbau der EU bedeuten, was nur Sinn macht, wenn die Menschen mitgehen möchten. Letztlich spricht viel für eine soziale Modernisierung des EU Vertrages. Doch auch abseits davon lassen sich wichtige Schritte setzen. Auf jeden Fall ist es wichtig sozialen Fortschritt zum zentralen Ziel der Politik zu machen.
Judith Vorbach, Arbeiterkammer OÖ, Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)
Foto: privat
Bereits 2016 stellte die Europäische Zentralbank (EZB) eine extreme Schieflage bei der Verteilung des Nettovermögens fest. Es gibt beträchtliche Wohlstandsunterschiede innerhalb und zwischen den EU Mitgliedstaaten und die COVID-19 Pandemie hat die Ungleichheiten weiter verschärft. Weit mehr als 20 Prozent der Menschen sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Aktuell leiden vor allem Menschen mit geringeren Einkommen unter den immensen Preissteigerungen, während die Folgen des Krieges in der Ukraine noch gar nicht absehbar sind. Dabei müssen soziale Ziele gerade jetzt in den Fokus rücken. Denn auch heute noch gilt, dass der „Weltfriede auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden“ kann, wie es in der Gründungsdeklaration der Internationalen Arbeitsorganisation von 1919 heißt. Die EU wird wirtschaftlich und politisch langfristig nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, die soziale Dimension auszubauen.
Dabei müssen mehrere Ziele berücksichtigt werden: integratives Wachstum, Vollbeschäftigung und qualitative Arbeit, gerechte Verteilung, Gesundheit und Lebensqualität, ökologische Nachhaltigkeit, Finanzmarktstabilität, Preisstabilität, ausgewogener Handel und stabile öffentliche Finanzen. Diese Ziele spiegeln sich auch in Artikel 3 des EU-Vertrages wieder. Tatsächlich kann es sein, dass durch Politikmaßnahmen einige Ziele gestärkt und andere geschwächt werden. Zum Beispiel führte vor allem in der Eurokrise die Überbetonung „stabiler öffentlicher Finanzen“ zu massiven Wohlstandseinbußen. Umgekehrt betrachtet sind gut funktionierende Sozialsysteme nicht nur zur Vermeidung sozialer Härten notwendig, sondern auch zur Sicherung der Nachfrage und Krisenfestigkeit. Um einen Ausgleich zu schaffen, ist eine Aufwertung sozialer Ziele auf mehreren Ebenen notwendig. Neben der Sozialpolitik sind auch die Wirtschafts-, Haushalts- und Steuerpolitik daran auszurichten. Und auch der grüne und digitale Übergang muss an soziale Bedingungen geknüpft werden. Leider werden durch die Architektur der EU hier einige Steine in den Weg gelegt.
Architektur der EU und die Folgen für die soziale Dimension
Die EU ist auf wirtschaftlicher Ebene bereits stark integriert. Der EU Binnenmarkt ist seit mehr als sechzig Jahren zentraler Bezugspunkt. Seine vier Marktfreiheiten umfassen den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr, sowie den Kapital- und Personenverkehr. Einerseits bringt der Binnenmarkt gerade im Exportbereich Arbeitsplätze, was aus oberösterreichischer Sicht eine wichtige Rolle spielt. Andererseits entsteht aufgrund des verschärften Wettbewerbs und der Standortkonkurrenz oft auch ein Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Zusätzlich zum Binnenmarkt wurde der Euro in neunzehn Mitgliedstaaten zur gemeinsamen Währung, sodass diese der Geldpolitik der EZB unterliegen und keine Wechselkursanpassungen möglich sind. Und im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wurden den Staaten Grenzen für ihre Defizite und Schulden vorgegeben. Schließlich wurde das Europäische Semester eingerichtet, über welches mit „länderspezifischen Empfehlungen“ Einfluss auf die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik genommen wird. Dabei war in der Vergangenheit ein Großteil auf preisliche Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltskonsolidierung ausgerichtet, wodurch es oft zu einer Schwächung sozialer Anliegen kam.
Aber auch insgesamt steckt die soziale Integration der EU in den Kinderschuhen, weil die Kompetenz dazu bei den Mitgliedstaaten liegt. Grundsätzlich gibt es dafür durchaus nachvollziehbare Gründe. Nicht nur dass die Sozialsysteme aufgrund der historischen Entwicklung in den EU Staaten sehr unterschiedlich sind. Der Nationalstaat ist nach wie zentraler politischer Bezugspunkt und die Debatten finden vor allem dort statt. Umgekehrt führt die starke wirtschaftliche Integration gerade bei fehlenden gemeinsamen Standards zu einer Einschränkung des sozialpolitischen Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten, selbst wenn die Kompetenz formal bei ihnen angesiedelt ist. Nationale Sozial- und Arbeitsrechte gehören nicht zu den verfassungsrechtlich geschützten Freiheiten des Binnenmarkts, sodass zum Beispiel die nationalen Arbeitnehmer*innenschutzrechte als administrative Markthindernisse angesehen werden können. Kein Wunder, dass viele Menschen den Binnenmarkt nicht nur als förderlich für die Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsplätze, sondern oft auch als Bedrohung wahrnehmen.
Wie können soziale Ziele über die EU Ebene gefördert werden?
Durch gemeinsame soziale EU Mindeststandards auf hohem Niveau würde der Druck zur Absenkung sozialer Rechte wegfallen und eine Verpflichtung zur Aufwärtskonvergenz entstehen. Nur durch eine Vertiefung der sozialen Integration kann ein Ausgleich zu den Marktfreiheiten geschaffen werden. Dazu braucht es eine entsprechende Willensbildung. Leider stoßen wir auch hier an Grenzen, zumal die politische Integration schleppend verläuft und es kaum eine europäische Öffentlichkeit gibt. Gerade im Bereich der sozialen Dimension wird es damit umso schwieriger die notwendigen Mehrheiten bzw. Einstimmigkeit zu finden. Nichtsdestotrotz wurde bereits Einiges durchgesetzt, wie etwa die Richtlinien zu Sicherheit am Arbeitsplatz, Mutterschutz oder Arbeitszeit. Der politische Einsatz dafür lohnt sich auf jeden Fall, und natürlich ist es nicht egal, wie die Sitzverteilung im Europäischen Parlament aussieht und welche Regierungen im Rat der EU vertreten sind. Zu den offenen Forderungen gehören Mindeststandards für nationale Arbeitslosenversicherungssysteme. Diese könnten um ein gemeinsames System zur Arbeitslosenrückversicherung ergänzt werden, sodass im Krisenfall die Auszahlung von Arbeitslosengeldern gewährleistet wäre.
Große Bedeutung kommt der Europäischen Säule sozialer Rechte von 2017 zu, die Grundsätze zu zwanzig Politikbereichen in drei Kapiteln aufstellt, nämlich erstens zu Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang (z.B. Bildung, Gleichstellung, Chancengleichheit), zweitens zu fairen Arbeitsbedingungen (z.B. Löhne, Sozialer Dialog, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben) und drittens zu Sozialschutz und sozialer Inklusion (Arbeitslosenleistungen, Pensionen, Pflege, Wohnbau). Zwar handelt es sich dabei (noch) nicht um durchsetzbare Rechte, dennoch wurden damit die Mitgliedstaaten und EU Institutionen in die Pflicht genommen, die soziale Dimension auf die EU Ebene zu heben. Und mit dem Aktionsplan zur Umsetzung der Sozialen Säule von 2021 erfuhr sie neuen Auftrieb. Dieser enthält zahlreiche Initiativen und Zielvorgaben. Zum Beispiel sollen bis 2030 mindestens 15 Millionen Menschen weniger von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sein. Außerdem soll mit einem Rahmen für angemessene Mindestlöhne in Europa ein Schritt gesetzt werden, um den Unterbietungswettlauf zwischen den Mitgliedstaaten zu stoppen. Darüber hinaus soll die Soziale Säule im Europäischen Semester stärker berücksichtigt werden, wobei abzuwarten bleibt, wie weit sich dies auch bei den länderspezifischen Empfehlungen niederschlägt.
Eine weitere Forderung ist die Verankerung eines „Sozialen Fortschrittsprotokolls“, sodass auch soziale Rechte in Verfassungsrang gehoben werden. Zum Ausgleich zwischen den Marktkräften und den sozialen Rechten bedarf es umgekehrt auch einer angemessenen Interpretation der Marktfreiheiten. Einerseits geht es darum, dass diese ihren Charakter als Grundrechte verlieren und in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht stärker gewichtet werden als Arbeits- und Gewerkschaftsrechte. Andererseits gilt es, den Grundsatz nach „Gleichem Lohn für gleiche Arbeit am gleichem Ort“ mit wirksamen Kontrollen umzusetzen, sodass dem Wettbewerb nach unten ein Riegel vorgeschoben wird. Zugegeben, dazu bedarf es bei einigen Punkten einer Änderung der EU Verträge, was aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips schwer durchsetzbar wäre. Andererseits müssen auch gerade in Anbetracht der aktuellen Umwälzungen viele Prinzipien überdacht werden, sodass auch Vertragsänderungen ins Visier genommen werden sollen. Die Konferenz zur Zukunft Europas wäre eine Gelegenheit, dies zu tun. Aber auch abseits von Vertragsänderungen ist einiges möglich.
Coronakrise – Aktive Politik zur Dämpfung des sozialen und wirtschaftlichen Einbruchs
Die Coronakrise hat nicht nur die Abhängigkeit der EU von internationalen Lieferketten vor Augen geführt. Es wurde auch einmal mehr klar, dass die Krisen und existentiellen Herausforderungen unserer Zeit die Lösungs-, Gestaltungs- und Schutzmöglichkeiten von einzelnen Staaten übersteigen und diese aufeinander angewiesen sind. Folgerichtig wurden auf EU Ebene mehrere Schritte gesetzt, um einer weiteren wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung entgegen zu wirken. Mit dem „Instrument zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken“ bzw. „SURE“ (Abkürzung der englischen Bezeichnung) wurde eine gemeinsame soziale Abfederung in Höhe von 100 Mrd. Euro installiert, welche die Staaten vor allem bei Kurzarbeitsprogrammen unterstützte.
Außerdem wurde das Programm NextGenerationEU (NGEU) eingerichtet mit dem Ziel, den Staaten bei der Überwindung der COVID-19 Krise zu helfen und gleichzeitig den grünen und digitalen Übergang voranzutreiben. Dabei wurden gemeinsam Finanzmittel in Höhe von etwa 800 Mrd. Euro aufgenommen, die an die Staaten in Form von Zuschüssen und Darlehen weitergegeben werden sollen. Den Hauptteil bildet die Aufbau- und Resilienzfazilität, deren Mittelvergabe an die Einhaltung von Plänen gebunden ist, die zwischen Mitgliedstaaten und EU Ebene abgestimmt sind. Ihre Abwicklung erfolgt im Europäischen Semester, und die Rückzahlung der Mittel soll über neue EU Eigenmittel erfolgen, die zum Beispiel auf unternehmensbezogenen Steuern und dem Emissionshandelssystem beruhen. Neben der Umsetzung der angekündigten Eigenmittel wird es nun auch wichtig sein, die Verteilungseffekte der Aufbau- und Resilienzfazilität und ihren Beitrag zu einer sozialen Aufwärtsentwicklung zu prüfen und sicherzustellen.
Wo bleibt die soziale Dimension bei der Gestaltung der öffentlichen Haushalte?
Im Zuge der COVID 19 Pandemie wurde auch die Ausweichklausel aktiviert, sodass die Mitgliedstaaten nicht mehr an starre Haushaltsregeln gebunden waren und aktiv gegen den Wirtschaftsabsturz eingreifen konnten. Die Ausweichklausel soll bis 2023 aktiv bleiben, was angesichts der hohen Unsicherheiten vernünftig ist. Am besten soll sie erst aufgehoben werden, wenn die Beschäftigung wieder auf Vorkrisenniveau ist und ein Übergang zu einer wohlstandsorientierten öffentlichen Haushaltspolitik geebnet ist. Eine Gelegenheit dafür bietet die derzeit stattfindende Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung. Diese soll genützt werden, um sozialen Zielen mehr Gewicht zu geben. Schließlich ist eine sozial nachhaltige und stabile Wirtschaftsentwicklung die beste Voraussetzung für langfristig tragfähige öffentliche Finanzen.
Darüber hinaus müssen auch öffentliche Zukunftsinvestitionen sichergestellt werden. Es ist weithin anerkannt, dass alleine zur Erreichung der Klimaziele die immense Summe von etwa 520 Milliarden Euro jährlich notwendig sein wird, wovon ein guter Teil auf die öffentliche Hand fallen wird. Daneben steht der Investitionsbedarf zur Erreichung der sozialen Ziele weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit, aber auch dieser ist beträchtlich. Weltweit wird geschätzt, dass etwa 3,3 bis 4,5 Billionen USD pro Jahr mobilisiert werden müssen, um die UN Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Und auch in der EU besteht Handlungsbedarf, z. B. bei der Armutsbekämpfung oder im Gesundheitsbereich. Insgesamt ist eine goldene Regel für Investitionen notwendig, damit die notwendigen Investitionen nicht erneut den Defizitregeln zum Opfer fallen.
Schließlich muss auch bei den öffentlichen Einnahmen etwas getan werden. Besonders dringend ist die Bekämpfung von aggressiver Steuervermeidung multinationaler Unternehmen. Auch die Mindestbesteuerung großer Vermögen oder die Finanztransaktionssteuer müssen endlich konkret werden. Gerade auf EU Ebene wäre das sinnvoll, um den Steuerwettbewerb nach unten zu stoppen. Derartige Schritte sind jedoch besonders schwierig, da auch Steuern in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen und alle Staaten gemeinsamen EU-Regeln zustimmen müssten. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass im Rahmen der länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters die Staaten zu einem Ausbau zum Beispiel vermögensbezogener Steuern aufgefordert werden. Tatsächlich wurde eine solche Empfehlung auch an Österreich gerichtet.
Den Übergang fair gestalten
Im Rahmen der Klimapolitik verweist die EU Kommission zu Recht auf die soziale und wirtschaftliche Dimension und unterstreicht, dass es wichtig ist, den Wohlstand und das Wohlergehen zu sichern. Das darf keineswegs ein Lippenbekenntnis bleiben. Hochwertige Arbeitsplätze und ein inklusiver Zugang zu Bildung sind Voraussetzungen für einen gerechten Übergang. Sozialer Ausgleich und die Unterstützung der vom Übergang besonders betroffenen Regionen soll unter anderem durch den Mechanismus für einen gerechten Übergang und den Klima-Sozialfonds gewährleistet werden. Wie die Bemühungen zu einem fairen grünen Übergang tatsächlich fruchten, hängt von der Einbettung in eine insgesamt fair gestaltete Umweltpolitik ab. Es ist eine umfassende Einbeziehung der Sozialpartner und vor allem der Arbeitnehmer*innenvertretung notwendig. Starke industrielle Wertschöpfungsketten in Europa und eine führende Rolle der europäischen Industrie bei der Erreichung der ökologischen Nachhaltigkeit müssen das Ziel sein. Bei der Förderung privater Investitionen, zum Beispiel beim Programm InvestEU auf EU Ebene, müssen die Schaffung guter Arbeitsplätze, die Achtung der Arbeitnehmer*innenrechte, der Umweltnormen und der steuerlichen Verpflichtungen im Vordergrund stehen.
Sozialer Fortschritt in der EU als Ziel
So sehr die angestrebte soziale Abfederung des grünen Übergangs zu begrüßen ist, so sehr klafft eine Lücke, um mit demselben Engagement für einen sozialen Übergang zu sorgen. Die Weiterentwicklung zu einem sozial-ökologischen Übergang, der einen Fortschritt zur Schaffung einer sozial nachhaltigen EU anstrebt, ist gerade angesichts des ständigen Krisengeschehens dringend geboten. Elemente dazu wurden im Artikel aufgezeigt. Und schließlich dürfen auch Änderungen des EU Vertrages kein Tabu sein.
Dieser Artikel ist im Rundbrief 3/22 erschienen. Diese Ausgabe steht im Zeichen der Europäischen Union. Aktuelle Entwicklungen machen einmal mehr deutlich, wie wichtig die Diskussion rund um die Rolle der EU ist. Egal wie man zum Einigungsprojekt steht, die Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, haben großen Einfluss auf uns alle. Auch auf den Sozialbereich, die Sozialwirtschaft und vor allem die Menschen in Europa.
Daher möchten wir im aktuellen und folgenden Rundbrief wichtige sozialpolitische Fragestellungen und Themen aufgreifen. Judith Vorbach schreibt in ihrem Artikel über die aktuellen Chancen und Hindernisse, um die soziale Dimension der EU angemessen auszubauen. Wir hatten Gelegenheit mit der neuen Vize-Präsidentin des EU-Parlaments Evelyn Regner zu sprechen. Außerdem widmen sich die Expertinnen Brigitta Zierer und Stefanie Niemann der neuen EU-Förderperiode.